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Das letzte Fest

Die Welt hetzt geschäftig auf Weihnachten zu, prall sind Terminkalender und Geschenketüten. Doch es gibt Orte, an denen das große Drumherum keine Rolle mehr spielt: Dort, wo Menschen sich auf das Sterben vorbereiten. Ein Besuch im Hospiz St. Christophorus in Mainz.

Weihnachten steht vor der Tür. Das große Christenfest, an dem Jesu Geburt gefeiert wird. Der Anfang eines Lebens. Neustart für den Menschen, Hoffnung auf Zukunft. Und das in einem Haus, in dem es ums Sterben geht. Weihnachten, das scheint hier völlig unpassend. Oder ist es vielleicht nur – anders?
Das Christophorus-Hospiz liegt in einer ruhigen Straße von Mainz-Drais. Wer eintritt, den umfängt, den umfängt eine helle, klare Art von Gemütlichkeit. Freundlich werden Besucher von Carmen Zimmermann empfangen und in einen großen Aufenthaltsraum geführt, „unser Wohnzimmer“, wie die Hospizleiterin sagt. Es ist behaglich dort. Wer den Geruch von Desinfektionsmitteln und klinische Beklemmung erwartet hat, irrt.
Vom plüschigen Biedermeiersessel einer Sitzgruppe fällt der Blick durch große Fenster auf die Terrasse. Dort sitzt in leicht gebeugter Haltung ein älterer Herr, der Kette raucht. Wenn er keine neue Zigarette anzündet, geht sein Blick ins Leere. Vielleicht fühlt er sich verloren, vielleicht hat er Angst vor dem Tod. Tröstlich, dass hinter ihm dieses helle, große Wohnzimmer liegt. Dieses Haus, wo er in seinen letzten Tagen geborgen ist.

Jeder Gast ein König

Außer ihm sind keine Gäste zu sehen. Gäste, so werden die Menschen genannt, die hier ihre letzten Lebenswochen verbringen. Rund 25 Pflegekräfte und noch einmal so viele Ehrenamtliche kümmern sich rund um die Uhr um acht Menschen, die dem Tod mehr oder weniger nah sind. Die Warteliste ist nie leer.
Die durchschnittliche Verweildauer, erklärt Zimmermann, beträgt 22 Tage. Manchmal sind es mehr, manchmal nicht mal zwei. Hier gibt es keine Visiten oder feste Essenszeiten. Alle dürfen ausschlafen und den Tag gestalten, wie sie es möchten. Niemand muss Schmerzen aushalten, letzte Wünsche werden nach Möglichkeit erfüllt. Für Angehörige gibt es immer ein offenes Ohr.

Einmal pro Woche kommt Ulrike Vogel (60) ins Hospiz und hilft für zwei bis drei Stunden mit. Die Ehrenamtliche reicht dann Essen an, umsorgt die Angehörigen oder ist einfach nur da „zum mit-Aushalten“, wie sie sagt. Wie kommt sie dazu, ihre Freizeit mit Sterbenden zu verbringen? „Ich hatte lange Zeit Angst vor dem Tod und wollte dem etwas entgegensetzen, indem ich mich damit beschäftige. Zum anderen ist es in unserer Gesellschaft ja so, dass es Angebote für alles Mögliche gibt. Aber beim Sterben wird es dann rudimentär. Es fühlt sich darum richtig für mich an, hier einen Beitrag zu leisten.“ Sie sei nicht gläubig, sagt sie, aber es gebe ihr viel, für die Gäste da zu sein. Weihnachten im Hospiz, sagt sie noch, das sei für viele der Gäste schon hart.

„Die meisten“, berichtet Zimmermann, „würden natürlich am liebsten zuhause sterben. Aber manchmal sind die Symptome zu stark, oder die Angehörigen können die Pflege nicht mehr allein bewältigen. Dann sind wir der richtige Ort.“ Für die Familie sei das immer eine Entlastung, und sie könnten sich auf die wesentlichen Dinge konzentrieren: Einfach für die Sterbenden da sein, gemeinsam reden und schweigen.
Carmen Zimmermann ist eine herzliche Frau mit offenem Lächeln. Ihre Worte wirken überlegt, aber nie verkrampft. Ihr Umgang mit dem Tod ist respektvoll, aber gelassen. „Die Arbeit hier hat mich gelehrt, bewusster zu leben“, sagt sie. „Man fragt sich im Alltag eher einmal: ‚Lohnt es sich, jetzt zu streiten?‘ – weil man täglich sieht, wie kurz das Leben eigentlich ist.“ Ihre Kollegin, Schwester Rita, kommt herein. Sie schiebt einen Wagen voller Weihnachtsgestecke. Kleine Wichtel und Sterne in herbstlichem Laub. Etwas Schönes fürs Auge, ein Mosaikstein der großen Aufgabe aller hier, es den Gästen noch so schön wie möglich zu machen. Wie mögen sich die Menschen fühlen?

Nirmala Peters, evangelische Pfarrerin für Hospiz- und Trauerseelsorge, setzt sich dazu. Sie ist mehrmals pro Woche im Hospiz, im Wechsel mit ihrem katholischen Kollegen Joachim Putz. „Es geht hier nicht darum, dem Leben mehr Tage zu geben, sondern den Tagen mehr Leben“, sagt Nirmala Peters. Es ist ein Zitat von Cicely Saunders, der Begründerin der modernen Hospizbewegung aus Großbritannien.

Stille Nacht

Wie ist es für sie und die anderen im Team, das Weihnachtsfest im Hospiz? „Es ist schön und traurig zu gleich – eine verhaltene Weihnachtsfreude“, findet Peters. „Unsere Gäste wissen in der Regel, dass es mit großer Wahrscheinlichkeit ihr letztes Weihnachtsfest ist.“

Ein kurzer Besuch im Zimmer von Frau S.. Die etwa 80-jährige Seniorin sitzt in einem Sessel am Fenster. Das Zimmer ist eingerichtet, wie es wohl auch bei ihr zuhause ausgesehen hätte: Ein Hochzeitsbild an der Wand, Fotos von der Familie, weihnachtliche Dekoration. Das letzte Mal goldene Kugeln, glitzernde Tannenzweige. Auf Weihnachten freut sich die alte Dame. Auch wenn sie nicht weiß, ob sie es noch erleben wird. Der Tod, er ist der Elefant im Raum. Frau S. hat Bauchspeicheldrüsenkrebs, sie ist bereits seit zwei Monaten im Hospiz. Sie wirkt schwach, zerbrechlich – aber zufrieden. „Ich werde hier wunderbar umsorgt“, sagt sie lächelnd. Ihre Augen erzählen von ihrem Wissen, warum sie hier ist. Es braucht keine Worte. So klein der Radius ihres Lebens geworden ist, es scheint dennoch erfüllt.

Am Heiligen Abend wird eine ökumenische Christvesper gefeiert, dazu ist jeder in das „Wohnzimmer“ eingeladen. Wer bettlägerig ist, kann mit dem Bett dorthin geschoben werden. Es gibt ein Team aus Ehrenamtlichen und Krankenschwestern mit Celli, Klavier und Flöte, das Musik macht. „Wir öffnen gerne auch die Zimmertüren, sodass man der Musik von dort lauschen kann“, sagt Peters. Die Gestaltung der Feier erfordert Sensibilität: „Wir singen hier nicht „O du fröhliche“. Es gibt aber einige Weihnachtslieder, die sehr gut zur Situation im Hospiz passen: „Ich steh‘ an deiner Krippen hier“ etwa, oder „O Heiland, reiß die Himmel auf“.“ „Stille Nacht“ singen sie immer. „Wir versuchen, zu vermitteln: Für Maria und Josef war es damals auch nicht das Weihnachten, dass sie sich vorgestellt und erhofft hatten“, sagt Peters.

Nach dem Gottesdienst am Heiligen Abend wird das Team wie jedes Jahr eine Kerze in jedes Zimmer tragen. Der Glanz der Weihnacht, ein letzten Mal. Ein tröstliches Licht, zum letzten Mal. Und vielleicht mit der Hoffnung auf ein viel größeres Licht, in einer anderen Welt, bald.