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Freikirchen – zwischen Glaubensheimat und Glaubensgefängnis

    Wenn Andy* eine Bibel sieht, dann erinnert sie das an ihre eigene Bibel. Innen sind viele Stellen bunt markiert. Heute ist das Buch eine Erinnerung an den Großteil ihres bisherigen Lebens – in dem sie Mitglied einer Freien Evangelischen Gemeinde war. Im Frühjahr dieses Jahres ist sie dort ausgetreten.


    Andy heißt in Wirklichkeit anders, aber wir dürfen ebenso über ihr Leben in einer Freikirche berichten wie über ihren Austritt aus dieser für sie prägenden Gemeinschaft. Zum Gespräch treffen wir uns in einem Café in einer mittelgroßen hessischen Stadt, die auch ihre Heimatstadt ist.
    Andy ist eine zierliche Frau Anfang 20: Herzliches Lachen, raspelkurze Haare, Brille, wacher Blick. Wie reflektiert sie sich mit dem Thema Glaube auseinandersetzt, wird schon nach ihren ersten Sätzen klar. Diese junge Frau hat es sich nicht leicht gemacht, sich von ihrem bisherigen Weltbild zu lösen. Andy macht aber auch deutlich: Dieser Schritt war wichtig für sie, der Neuanfang hat sie befreit.

    Als sie in diesem Jahr den Austritt wagte, hatte sie einen Großteil ihres Lebens in einer Freien Evangelischen Gemeinde verbracht. Ihre Eltern beschreibt sie als sehr religiös, charismatisch-pfingstlerisch ausgerichtet. Mehr als die Gemeinde sind sie es, die Andy ein schwarz-weißes Bild von Menschen mit und ohne Religion vermitteln: „Uns Kindern wurde suggeriert: Das, was die denken, ist falsch, und wir glauben das Richtige.“ Ihre Eltern prägen Andy und ihren älteren Bruder früh, schon als Kleinkind ist sie in der Krabbelgruppe der Gemeinde, später folgen Kindergottesdienst, Bibelunterricht, Jugendarbeit. Die meisten Freundschaften hat das Mädchen in der Gemeinde, besucht nach der Grundschulzeit eine christliche Privatschule. Es habe keinen offensiven Druck oder strenge Vorschriften in ihrer Gemeinde gegeben, sagt Andy. Vieles sei einfach unterschwellig abgelaufen: „Es war nicht so, dass man keine andersgläubigen Freunde haben durfte. Aber man hat uns dort oft erklärt, wie man mit solchen Freunden umgehen sollte. Der Tenor war immer: ‚Du kannst andere Freunde haben, aber erzähl ihnen von Jesus!’“, erzählt die Studentin. Je älter sie wird, desto mehr bedrückt sie, dass kritisches Denken in ihren Kreisen nicht gewünscht ist. „Zum ersten Mal gezweifelt habe ich eigentlich schon als Teenager. Aber damals wollte ich es nicht wahrhaben.

    Der Pastor konnte ihre vielen Fragen, etwa zur Theodizee, nur ungenügend beantworten. „Zu meinen Eltern hätte ich mit diesen Fragen nicht gehen können. In ihrem Denken gibt es nicht die Freiheit eines großen Spektrums“, erinnert sie sich. Ab 2020 studiert Andy an einer internationalen Hochschule, die sich selbst als „charismatisch“ und missionarisch“ beschreibt. Dort wird ihr zum ersten Mal wirklich „diese kognitive Dissonanz“, in der sie lebt, bewusst: „Mir sind Themen wie die Stellung der LGBTQ-Community in solchen Kreisen aufgefallen und die Rolle von uns Frauen.“ Sie befasst sich zum ersten Mal mit Literatur von Atheisten über das Christentum: „Da ist mein gesamtes Kartenhaus in sich zusammengefallen. Ich habe festgestellt, dass ich jetzt Agnostikerin bin“, erklärt sie. Als sie sich schließlich „outet“ und die Hochschule verlässt, ist es dennoch eine Befreiung.

    Die Selbsthilfegruppe „fundamental frei“ kümmert sich seit 2019 um ehemalige Mitglieder fundamentalistischer Freikirchen. „Es gibt viele problematische Freikirchen“; sagt Elli aus dem Vorstand des Vereins. Aus ihrer Sicht gibt es keine bestimmte Gruppierung unter den Freikirchen, die mehr zur Manipulation ihrer Mitglieder tendiert als andere: „Das kann man so pauschal nicht sagen. Es gibt viele problematische charismatische, stark pfingstlerisch ausgerichtete Freikirchen und Mega Churches, Brüdergemeinden oder Baptistengemeinden.“ Ehemalige Mitglieder problematischer Gemeinden berichten von strikter Unterscheidung von Gut und Böse, dass kritisches Nachfragen und Zweifel unterdrückt sowie Kontakte zu Nichtmitgliedern kritisch beäugt würden. Bei geschlossenen Brüdergemeinden treffen diese Aspekte oft zu. Elli ergänzt, ein paar wenige seien aber auch „liberaler und offen für Veränderung.“ Liegt es denn nun eher an der Gemeindestruktur oder an einzelnen Leitungspersonen, dass der Glaube, das persönliche Bekenntnis in manchen freikirchlichen Gemeinden unfrei macht? Elli findet: „Ich denke, dass es beides gibt und dass sich diese Punkte auch oft gegenseitig bedingen.“

    Rund ein bis zwei Prozent der Bevölkerung in Deutschland gehören einer Freikirche an. Genaue Angaben sind schwer zu ermitteln, da die meisten Gemeinden keine Statistik führen. Laut des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD schrumpfen die Mitgliederzahlen der Freikirchen wie die der Großkirchen, wenn auch langsamer. Weil viele Menschen solche Gemeinden nur vom Hörensagen kennen, scheint der Eindruck in der Gesellschaft oberflächlich, die Grenzen zu Sekten wie den Zeugen Jehovas wirken häufig verschwommen. Doch was macht eine Gemeinschaft zur Sekte, und wo beginnt auch bei einer Freikirche der Bereich, der Menschen unfrei macht?

    „Freikirchen sind deutlich von Sekten zu unterscheiden. Der Begriff Sekte wird eigentlich offiziell auch nicht mehr verwendet. Größere Gemeinschaften bezeichneten meist kleinere als Sekten, um sie zu diskreditieren“, erklärt Burkhard Neumann vom Johann-Adam-Möhler-Institut für Ökumenik in Paderborn. Er ist unter anderem verantwortlich für den Dialog mit den Freikirchen. Der Wissenschaftler spricht lieber von ‚toxischen Gemeinschaften‘. Freikirchen gibt es seit Beginn der Reformation. Das persönliche Bekenntnis jedes Einzelnen an Jesus Christus, die Bibel als gemeinsame Basis und die Erwachsenentaufe sind wichtige Punkte in allen Gemeinden. Sie arbeiten oft auf freiwilliger Basis zusammen. „Freikirchen sind vielleicht eher anfällig für toxische Strukturen, da es keine übergeordnete Hierarchie gibt, die ihr Tun kontrolliert“, fährt Burkhard Neumann fort. Ähnliche Phänomene gebe es aber auch in den hierarchisch verfassten Großkirchen. Das zeigt etwa die aktuelle Debatte um geistlichen Missbrauch innerhalb der Neuen Geistlichen Gemeinschaften, die von der katholischen Hierarchie lange Zeit gefördert und sehr unkritisch behandelt wurden. Neumann betont: „Macht muss immer kontrolliert werden. Ein besseres Verständnis der Kirchen füreinander ist lohnenswert.“


    Ein Sonntagvormittag in Wiesbaden, Gottesdienst in der Overflow-Kirche. Die Gemeinde gehört zum Bund freikirchlicher Pfingstgemeinden und zählt rund 400 Mitglieder. Denise Becker ist eine von ihnen. In der Overflow-Kirche fühlt sich die Logopädin aus Rheinhessen mit ihrem Glauben zu Hause: „Hier kann ich über alles reden und alle meine Fragen stellen“, sagt sie. Kontakt zu der Gemeinde hat sie seit ihrer Kindheit. Als Jugendliche nahm sie aus mehreren Gründen Abstand, was von niemanden kritisiert worden sei, erzählt sie. „Dann habe ich gemerkt, dass ich hier auch Leute treffen kann, die eine persönliche Beziehung zu Gott haben und leben“, sagt Becker. Heute ist sie wieder in der Gemeinde aktiv.
    Rund 100 Menschen sind beim Gottesdienst dabei. Die Besucher beten um die Heilung kranker Gemeindemitglieder, besingen Gottes Größe und spüren nach, wo sie im Leben erfahrbar war. Viele bleiben nach dem Gottesdienst und trinken eine Tasse Kaffee zusammen. „Für mich ist eine gute Gemeinschaft eine, die den Menschen ganz sieht. Wir möchten den Menschen zu einem erfüllten Leben verhelfen, dass sie ihre Bestimmung finden können und Freiheit im Glauben erleben“, sagt Pastor Weise. Der Pastor sieht seine Aufgabe lediglich darin, „Menschen in Verbindung mit Gott zu bringen, sie zu begleiten und zu versöhnen.“ Die Zusammenarbeit im Verbund und der Austausch untereinander schütze davor, dass eine Gemeinschaft abdreht und ungesund werde, meint der Pastor.


    „Glaube muss als Glaube gelebt und verstanden werden, nicht als Wissen“, sagt Diplom-Psychologe Dieter Rohmann. Er hat seit den 80er Jahren mit „kulte.de“ eine Ausstiegsberatung für Menschen aufgebaut, die kultische Gemeinschaften oder Freikirchen mit manipulativem Charakter verlassen haben oder verlassen wollen. Aus seiner Erfahrung mit den Aussteiger:innen sagt er: „Glaube macht unfrei, wenn er mehr Angst macht statt Leichtigkeit zu vermitteln. Wenn Grenzen des Glaubens meine selektive Wahrnehmung der Welt ausmachen und dazu führen, dass ich nicht mehr neugierig auf Neues bin.“
    Die psychologischen Muster toxischer Gemeinschaften beschreibt er so: „Die Manipulation läuft häufig über Schuld, Sünde und Angst. Sie suggerieren ihnen auch: ‚Verlässt du uns, dann verlässt du Gott‘. Darum ist die Situation für Kinder in solchen Gemeinschaften besonders schwierig. Wenn sie diese als junge Erwachsene verlassen wollen, müssen sie sich oft auch von ihren Familien und Freunden trennen und ihr Weltbild völlig neu ordnen. Dazu gehört viel Mut“, findet Rohmann.


    Wie lebt Andy heute? „Mit vielen meiner früheren Freunde bin ich noch verbunden. Aber manche können auch nicht akzeptieren, dass ich nicht mehr gläubig bin.“ Mit Gemeindemitgliedern oder dem Pastor hat sie nicht über ihre Entscheidung gesprochen. Gespannt ist das Verhältnis zu ihren Eltern: „Sie unterstützen mich weiterhin, akzeptieren meine Entscheidung aber nicht wirklich.“ Doch Andy ist sich sicher, dass ihr Weg dort zu Ende ist. Und sie versucht, mit ihrer Vergangenheit Frieden zu schließen: „Das gehört zu mir und hat mich zu der Person geformt, die ich bin – und das ist okay“, sagt sie.