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Heute wieder zu Hause bleiben

Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist eine Herausforderung. 2023 fehlen bis zu 383.600 Plätze bundesweit, erklärt die Bertelsmann Stiftung. Für Kinder mit Behinderung ist die Situation besonders schwierig. Ihre Eltern führen einen fast aussichtslosen Kampf.

Es ist ein Marathonlauf mit plötzlich auftauchenden Hindernissen und einem Ziel, das sich immer weiter außer Sichtweite verschiebt. So erlebt eine alleinerziehende Mutter aus Hessen die Suche nach einem Kita-Platz für ihren Sohn. Der Grund: Er hat eine Sprachentwicklungsverzögerung und eine Intelligenzminderung. Die Mutter möchte anonym bleiben. „Wir haben nicht gerade Vorteile, wenn allgemein bekannt ist, dass mein Sohn eine Behinderung hat. Das ist meine Erfahrung bisher“, erzählt sie. Eigentlich hat jedes Kind in Deutschland ein Recht auf einen Kita-Platz. Die Bundesregierung hat sich 2009 mit Unterzeichnung der UN-Behindertenkonvention verpflichtet ein inklusives Bildungssystem zu entwickeln. Der Junge aus Hessen hat mit Unterstützung des Jugendamtes einen Kita-Platz seit er vier Jahre alt ist. Allerdings darf er jeden Tag nur zwei Stunden kommen. Die Mutter hätte ein Anrecht auf eine Integrationskraft. Im August wurde der Antrag nach einem Jahr genehmigt. Sie mussten mit Ärzten Termine ausmachen und Diagnosen stellen lassen. Dazu kamen lange Bearbeitungszeiten. Dann, als der positive Bescheid kam, hatte das Kita-Jahr schon angefangen und alle Fachkräfte waren verplant. Ohne unterstützende Fachkraft darf der Fünfjährige nicht länger bleiben, da in der Einrichtung ohnehin schon Personal fehlt.
„Ich bin absolut für Inklusion und würde gerne mehr tun, aber ich kann es einfach nicht verantworten“, beklagt auf der anderen Seite eine Kita-Leiterin einer Einrichtung eines privaten Trägers in Hessen. Das Gebäude sei noch nicht einmal barrierefrei. Dazu käme noch der Personalmangel. „Wir haben offen, obwohl viele Erzieherinnen fehlen und hoffen, dass nichts passiert“, sagt sie.

Probleme auch in anderen Bundeländern

In Deutschland können Kinder mit Behinderung entweder mit Unterstützung einer Fachkraft einen Regelkindergarten besuchen, eine integrative Einrichtung für Kinder mit und ohne Behinderung oder eine heilpädagogische Einrichtung, die nur Kinder mit Behinderung betreut. Jedes Bundesland hat andere Schwerpunkte. In Hessen gibt es eine Vereinbarung der Kommunalen Spitzenverbände mit der Liga der Freien Wohlfahrtspflege von 2014. Nimmt ein Regelkindergarten Kinder mit Behinderung auf, soll die Gruppengröße reduziert werden und Personal dazukommen. Eine Fachkraft soll für 15 Stunden in der Woche für das Kind zuständig sein. In Wiesbaden stimmt sich die Kita mit den freien Anbietern ab, wie viel Hilfe das Kind tatsächlich braucht, ob mehr oder weniger als 15 Stunden. Von der Pressestelle des Hessischen Ministeriums für Soziales und Integration, heißt es, das Land wisse um die Probleme der Eltern. Die Vereinbarung würde gerade von den Beteiligten überarbeitet.
Hessen ist nicht das einzige Bundesland mit Problemen in diesem Bereich. Erwin Drefs, Landesvorsitzender der Lebenshilfe Niedersachsen, ist empört. „Viele Kinder mit Behinderung sind nicht adäquat versorgt“, sagt er. Eltern müssten nicht nur einen gesonderten Integrationsplatz suchen, von denen es viel zu wenig gebe. Um ihn auch zu bekommen, müsste ein Antrag auf Eingliederungshilfe gestellt werden. Das sei ein langer Weg. Ambulante Integrationshelfer, die in den Regelkindergarten kämen, gebe es nur sehr vereinzelt. Würden sie krank, müssten die Kinder oft zu Hause bleiben. „Das ist eigentlich skandalös“, ärgert er sich. Von der Lebenshilfe in Bayern heißt es, dass alltägliche Barrieren und fehlende Betreuungsplätze Teilhabe und Inklusion im Kita Bereich gefährdeten.

Die Rahmenbedingungen in der Kita-Praxis sind häufig unzureichend. Das ergab auch eine Umfrage des KTK-Bundesverbands des Deutschen Caritasverbands unter den Diözesan-Referentinnen und Referenten für Kindertageseinrichtungen. Diese wurden zum Bundes-Gesetz zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen aus dem Jahr 2021 befragt. Positiv sei, dass Träger, Leitungen und pädagogische Fachkräfte für das Thema Inklusion mehr sensibilisiert seien. Letztlich drehten sich alle Probleme um die Finanzierung von Leistungen, der Ausstattung von Einrichtungen und den Personalmangel. Die Mehrheit aller Kitas müssten die Einrichtung anhand ihrer Betriebserlaubnis auslasten, da kleinere Gruppen für Kinder mit Behinderung oft nicht ausreichend refinanziert würden, erklärt der Fachverband weiter.

Von Inklusion profitieren alle

Silke Morini ist Geschäftsführerin der Känguru Kindertagesstätten der IFB-Stiftung Wiesbaden mit den Schwerpunkten Inklusion und sieht es für unsere Gesellschaft als wesentlich an, dass Kinder von klein auf gewohnt sind, mit Menschen zu interagieren, die anders sind. Kinder mit Behinderung würde es wiederum stark machen, wenn sie lernen müssten, in der echten Welt zurecht zu kommen. Für die ganze Familie sei es von Vorteil, wenn sie eine Kita fänden, die zu ihrem sozialen Umfeld gehört. Morini sieht auch die Schwierigkeiten. „Inklusion verlang mehr Wissen und mehr Übernahme von Verantwortung. Der Personalmangel trifft uns hart. Die Ausbildungsstätten haben versäumt ihr Angebot auszuweiten. Ich wünsche mir hier mehr Flexibilität, um den Quereinstieg zu erleichtern“, sagt sie. Viele Eltern würden es scheuen, ihr Recht einzuklagen. „Wer gibt schon gerne sein Kind in eine Einrichtung, wo es eigentlich nicht erwünscht ist?“, fragt sie sich. Viele Eltern von Kindern mit Behinderung haben auch nicht die Zeit und die finanziellen Mittel, um zu klagen. Morini betont: „Wir müssen uns alle für Inklusion einsetzen, damit die nächste Generation davon profitieren kann.“
Die Mutter aus Wiesbaden gibt nicht auf. Sie hat weiter Kontakt zu staatlichen Stellen und freien Trägern, damit ihr fünfjähriger Sohn länger in die Kita gehen kann. „Wir sind meistens zu Hause und unternehmen selber etwas. Ich mache mir Sorgen, wie es nächstes Jahr aussieht. Mein Sohn muss mit Gleichaltrigen in Kontakt kommen. Er muss auch auf die Schule vorbereitet werden“, fordert sie.