Deutschland leidet am Pflegenotstand. Bereits seit den 1960er-Jahren ist das ein Thema, auch aktuell wird es wieder verstärkt diskutiert. Wie prekär ist die Lage? Was bedeutet das für unsere Gesellschaft und wie können wir gegensteuern? Wir haben Menschen von der Caritas in den drei Bistümern danach gefragt.
Einem pflegebedürftigen Menschen im Alltag helfen. Beim Waschen, beim Anziehen, beim Einnehmen der Medikamente. Alles erledigt? Schnell weiter zum nächsten: Essen anreichen, Windeln wechseln, Menschen in Rollstühle hieven und wieder hinaus, Übergabe an die nächste Schicht. Am nächsten Morgen geht es wieder los, um 6 zur Frühschicht. Oder mit der ersten Fahrt des Tages als ambulante Pflegekraft.
Für die meisten von uns geschieht diese anstrengende Arbeit im Verborgenen, wie in einer fernen Blase fernab des eigenen Alltags. Jedenfalls so lange, bis die eigenen Eltern oder Partner pflegebedürftig werden, oder man selbst. Dann kennt man sie, die häufig übermüdeten Frauen und Männer, die immer im Laufschritt über Stationsflure unterwegs sind oder in den Autos der Pflegedienste von einem Haus zum nächsten hetzen. Was Überbelastung mit einem Menschen in einem sozialen Beruf macht, ist sehr verschieden. Fakt ist jedoch: Es gibt immer weniger Menschen, die in der Pflege arbeiten möchten – bei gleichzeitig rasant steigendem Bedarf. Laut der Gewerkschaft ver.di fehlen aktuell deutschlandweit 100.000 Fach- und Hilfskräfte in der Altenpflege.
Bianca Lingnau war selbst zwölf Jahre lang Fach-Krankenschwester auf einer Intensivstation. Sie kennt die tägliche Arbeit der Pflegekräfte. Inzwischen ist die Diplom-Pflegewirtin in der Administration tätig, leitet das so genannte Kompetenzfeld Gesundheit, Pflege, Teilhabe und Akademie im Diözesan-Caritasverband (DiCV) Limburg. Dort kümmert sie sich um die sozialpolitischen Interessen der Mitglieder und beschäftigt sie sich mit der Frage, wie die Caritas im Bereich Pflege fachlich und strukturell in Zukunft aufgestellt muss.
Zum DiCV Limburg gehören insgesamt 35 stationäre Altenpflegeeinrichtungen, 20 ambulante Pflegedienste und sieben Krankenhäuser. Pflege findet auch statt in 14 Tagespflegeeinrichtungen, drei Hospizen und zwei Senioren-WGs des DiCV. Mit dem Pflegenotstand und seinen Folgen ist Lingnau also täglich konfrontiert.
Warum fehlen so viele Pflegekräfte? Einen Grund sehe sie in zu wenigen niedrigschwelligen Zugangswegen zu dem Beruf: „Durch den Wegfall des Zivildienstes und den Rückgang von Menschen, die ein Freiwilliges Soziales Jahr absolvieren, sind die Möglichkeiten deutlich reduziert.“ Zudem fordert Lingnau eine Verbesserung für die einjährig ausgebildeten Pflegehilfskräfte. „Die Finanzierung muss endlich auskömmlich durch die Länder gestaltet werden.“
In der dreijährigen Ausbildung ist die finanzielle Lage für Pflege-Azubis besser. Seit 2020 heißt sie „generalistische Pflegeausbildung“. Sie vereint die zuvor getrennten Bereiche von Kranken- Kinderkranken- und Altenpflege, sodass die Absolventen nun in allen Bereichen eingesetzt werden können.
Laut dem Statistischen Bundesamt verdienten Auszubildende in Deutschland 2022 über alle Ausbildungsjahre hinweg im Mittel 1057 Euro brutto. In den Pflegeberufen waren es durchschnittlich rund 1200 Euro. Zum Vergleich: Im Handwerk waren es im Schnitt nur 900 Euro. Auszubildende in der Altenpflege der Caritas kommen laut dem häuslichen Tarifvertrag aktuell auf 1340 Euro im ersten Lehrjahr. Ab dem ersten Berufsjahr nach der Ausbildung sind es rund 2600 Euro, je nach Erfahrung und Arbeitsdauer kann der Lohn auf über 3000 Euro steigen. Das deckt sich nach einem groben Vergleich mit anderen Anbietern mit der Aussage Lingnaus, bei der Caritas selbst würde man „fair und angemessen“ bezahlen. Natürlich sind 1340 Euro in einem Ballungsraum etwas anderes als im ländlichen Bereich. Doch am Geld allein kann es nicht liegen, dass das Berufsfeld der Altenpflege so unterversorgt ist.
„In den letzten Jahren wurde die Vergütung in der Pflege stark angehoben, um mehr Menschen für diese Tätigkeit zu gewinnen“, sagt der Direktor des Caritasverbands (CV) Worms, Lars Diemer. Allein seit 2022 habe es etwa eine Lohnsteigerung von 17 Prozent bei den Hilfskräften gegeben. „Bei der Caritas waren es in diesem Zeitraum 12 Prozent für die Fachkräfte. Dazu kamen die Inflationsausgleichsprämien.“ Das Problem des Personalmangels lasse sich bei allen sozialen Berufen beobachten. „Ich bin der Meinung, Pflegekräfte werden gerecht entlohnt – auch wenn ich mir mit dieser Aussage vielleicht keine Freunde mache“, sagt Diemer. „Aber meines Erachtens können wir das Problem nicht nur über höhere Gehälter lösen. Wir brauchen vielmehr andere Rahmenbedingungen für diese Berufe.“
Doch wie könnten diese aussehen? Bianca Lingnau sagt: „In Hessen werden wir bis 2035 etwa 16 Prozent mehr pflegebedürftige Menschen haben. Gleichzeitig geht ein großer Teil der Pflegekräfte in dieser Zeit in Rente.“ Die Idee hinter der generalistischen Ausbildung sei es, dass angehende Pflegekräfte alle Facetten des Berufs kennenlernen und sich dann im besten Fall nach dem Abschluss für den Bereich der stationären oder ambulanten Langzeitpflege entscheiden. „Das ist im Bereich der Altenpflege leider noch nicht im gewünschten Maße eingetreten“, sagt Bianca Lingnau.
Lars Diemer vom CV Worms fordert, mehr „kreative, kosteneffiziente Lösungen“ zu finden und „die Anforderungsstandards für die einzelnen Einrichtungen überdenken.“ Auch Brandschutz und Arbeitsschutz seien sehr kostenintensiv und „oft überbürokratisiert. Die Politik sagt zwar, dass sie Bürokratie abschaffen will, aber wir haben das bisher nicht feststellen können, im Gegenteil.“ So nimmt es auch der Leiter einer Altenpflegeeinrichtung des CV im Bistum Fulda wahr, der namentlich nicht genannt werden möchte: „Leider nimmt der Dokumentationsaufwand in der Pflege immer weiter zu. Er führt dazu, dass uns weniger Zeit bleibt für das, was wir eigentlich leisten möchten: die Zeit mit den uns anvertrauten Menschen nutzen.“
Altenpflege findet nur zu einem Bruchteil in Pflegeheimen statt: „80 Prozent der Seniorenversorgung läuft ambulant“, erklärt Lars Diemer. Dort sei die Mitarbeitergewinnung noch schwieriger. „Die Vergütung für die ambulanten Pflegeleistungen ist so gering, dass man fast nicht mehr kostendeckend arbeiten kann.“ Besser als in den Ballungsräumen sehe es im ländlichen Bereich aus, berichtet Lingnau, und nennt als Beispiel aus dem Bistum Limburg den CV Westerwald-Rhein-Lahn. Sein Projekt „Pflege ganz aktiv“ geht jetzt zum zweiten Mal in die Verlängerung. Dieser Ansatz ist an das niederländische Modell „Buurtzorg“ angelehnt. Die ambulanten Pflegekräfte strukturieren bei ihrer Arbeit dann weniger nach striktem Zeitplan, sondern situationsbedingt. Sie haben mehr Spielraum und können sich individueller um die Sorgen der pflegebedürftigen Menschen kümmern.
Wenn Bianca Lingnau sich von Gesundheitsminister Karl Lauterbach etwas wünschen könnte, dann wäre das in Bezug auf die Altenpflege unter anderem „eine Deckelung der Eigenanteile für die stationäre Altenpflege – die Menschen können sich bald kein Heim mehr leisten.“ Diese Problematik sieht auch Lars Diemer. „Viele ältere Menschen wollen immer länger zuhause bleiben, bevor sie in ein Heim ziehen.“ Die Folge: Viele kämen erst, wenn es gar nicht mehr anders ginge. Im Caritasverband Worms hätte man darum „entweder, wenn auch selten, das Problem, Häuser nicht mehr voll belegen zu können. Weitaus häufiger können wir aber nicht mehr voll belegen, weil uns das Personal fehlt.“
Es bleibt die Anwerbung von Fachkräften aus dem Ausland. Hier sei man „in den vergangenen Jahren auf einen guten Weg gekommen“, so Lingnau. Wobei noch mehr Augenmerk auf die Integration gelegt werden müsse. Denn wer sich wohlfühle und bald soziale Kontakte hätte, bliebe auch gern zum Arbeiten in Deutschland. Hier setzt auch Lars Diemer an: Der CV Worms beschäftigt einige Menschen aus Indien und Südamerika, die in seinen Einrichtungen einen Bundesfreiwilligendienst leisten und anschließend eine Ausbildung absolvieren. „Weil das Thema Wohnraum für sie besonders schwierig ist, sind wir hier kreativ. An manchen Standorten nutzen wir ehemalige Pfarrhäuser, um ihnen günstiges Wohnen zu ermöglichen.“
Was können Pflegeeinrichtungen noch in Eigenregie tun, um die Situation für ihre Arbeitskräfte zu verbessern? Im DiCV Limburg gibt es auch für Menschen ohne Hauptschulabschluss die Chance zum Pflegeberuf, sie werden mit Qualifikationsmaßnahmen versorgt. Zudem achten viele Einrichtungsleitungen immer mehr darauf, Dienstpläne so flexibel wie möglich zu gestalten, besonders auch für die Eltern unter den Mitarbeitenden.
Trotz aller Sorge möchte Bianca Lingnau eines betonen: „Der Pflegeberuf ist einer der schönsten Berufe, die es gibt: hochprofessionell, vielfältig, erfüllend. Pflegekräfte bekommen immer etwas zurück, dieser Beruf bringt Menschen weiter in ihrer charakterlichen Reife wie kein anderer.“
Elisabeth Friedgen
erschienen im Katholischen Magazin der Bistümer Fulda, Mainz und Limburg
September 2024