Manchmal sterben Kinder, bevor sie das Licht der Welt richtig erblickt haben, vor der Geburt oder kurz danach. Oft fühlen sich die Familien dieser Sternenkinder mit ihrer Trauer allein. Die Kirche in der Region möchte ihnen beistehen. Doch es muss sich noch viel ändern.
Ein kurzer Moment. Im Rausch der Zeit kaum wahrnehmbar. Für Melanie und Stefan Pöschke (Namen von der Redaktion geändert) war danach die Welt, die sie gewohnt waren, die rosarote, nicht mehr. Anfang und Ende waren vertauscht, Leben und Tod. Sie standen nicht mehr vor der Frage: „Wie kümmern wir uns um unser Neugeborenes?“ Sondern: „Was tun wir für unser frisch verstorbenes Kind?“ Sie spüren heute so viel Liebe in sich. Und so viel Trauer. Der Sohn des Paares aus Rheinhessen kam vor zwei Jahren als Frühchen zur Welt. Seine Prognosen waren gut. Doch nach 67 Tagen ist er im Krankenhaus unerwartet verstorben.
Melanie und Stefan Pöschke fanden sich in einer anderen Wirklichkeit wieder, einer Wirklichkeit, die Menschen in ihrer Umgebung nicht kennen. „Tod und Trauer spielen kaum eine Rolle in unserer Gesellschaft. Wir haben viel Verständnis erfahren, oft von überraschender Seite. Aber auch viel Unverständnis. Der Freundeskreis hat sich geändert. Vereinzelt haben Menschen, die wir kennen, die Straßenseite gewechselt. Das tut weh. Ich denke, manche haben Angst, uns zu verletzen. Man kann uns aber nicht noch trauriger machen. Wenn jemand nichts zu sagen weiß, tut es gut, wenn man einfach da ist, um den Schmerz mit uns auszuhalten“, sagt die Mutter. Halt haben sie schließlich in der Selbsthilfegruppe „Trauernde Eltern und Kinder Rhein-Main“ gefunden.
Das Ehepaar wünscht sich von seinen Mitmenschen mehr Mut und Sensibilität. „Wir können nicht anders, als über unseren toten Sohn zu reden. Das ist jetzt unser Leben. Natürlich sagen wir ‚Ja‘, wenn jemand fragt, ob wir Kinder haben. Wenn wir dann ins Gespräch kommen, können alle profitieren. Denn früher oder später werden wir alle mit Tod und Trauer konfrontiert“, sagen sie. Wütend machen sie vermeintlich gut gemeinte Sprüche wie: „Ihr könnt doch noch ein Kind bekommen.“ Dazu sagt Melanie Pöschke: „Früher habe ich meinen Ärger runtergeschluckt, heute sage ich etwas dagegen. Ein weiteres Kind würde doch unseren Sohn nicht zurückbringen. Ich kenne auch viele Sternenmamas, die können gar keine Kinder mehr bekommen.“
Ihre größte Angst ist, dass ihr Sohn in Vergessenheit geraten könnte. „Außer uns hat ihn fast niemand kennengelernt. Für viele ist er nur abstrakt. Für uns ist er aber in jedem Moment ganz real. Dieses Jahr haben wir daher das erste Mal seinen Geburtstag gefeiert“, erzählt Melanie Pöschke. Manchmal, denkt sie, schickt ihr Sohn einen Regenbogen als Zeichen, dass er noch mit uns verbunden ist. So auch an diesem Nachmittag kurz vor dem Gespräch, in dem er im Mittelpunkt steht.
Jede sechste Frau erleidet eine Fehlgeburt
Vielleicht ist ihr Sohn ein Regenbogenkind. Vielleicht ein Sternenkind. Die Definitionen sind nicht genau. Selbsthilfegruppen möchten keine klare Grenze ziehen. Sie zählen alle Kinder dazu, die vor oder nach der Geburt oder im ersten Jahr gestorben sind. Jedes Elternpaar oder jede Familie kann es für sich definieren, wie es sich für sie richtig anfühlt, sich mit Eltern treffen, bei denen sie das Gefühl haben, in der gleichen Situation zu sein. Fest steht: Es sind keine Einzelfälle. Jede sechste Frau erleidet einmal in ihrem Leben eine Fehlgeburt, sagen Studien. Im Jahr 2022 wurden in Deutschland laut Statistischem Bundesamt 3247 Kinder tot geboren. Das sind Kinder, die in der 24. Schwangerschaftswoche zur Welt kamen oder mehr als 500 Gramm wogen. Kinder, die nicht in diese Kategorie fallen, werden nicht gezählt. Die Quote liegt bei 4,4 Prozent. 2189 Kinder sind 2023 im ersten Lebensjahr gestorben, der Großteil von ihnen noch in der ersten Woche.
Hinter den Zahlen stehen Familien und Geschwisterkinder. Die Kirche sollte für sie da sein, ihnen zeigen, dass sie ihre Trauer mitträgt. Das möchte die Frauenkommission im Bistum Mainz deutlicher machen. Mit der Liturgiekommission und Bischof Peter Kohlgraf hat sie eine Gebetsbitte formuliert, die sich den Kindern widmet, die verstorben sind, bevor sie das Licht der Welt erblickt haben. Diese wird derzeit an die Gemeinden geschickt mit dem Vorschlag, sie beim Totengedenken an Allerseelen vorzulesen und im gemeinsamen Gedenken zu erwähnen. „Uns ist es wichtig, die Sternenkinder hörbar zu würdigen. Wir möchten auch ermutigen, im Trauergespräch anzubieten, Kinder mit ihrem Namen oder falls noch kein Name vorhanden war, mit ihrem Kosenamen wie zum Beispiel Sternchen in das Gedenken mit hineinzunehmen“, erklären Nicola Diefenbach und Susanne Botthof-Schlitt von der Frauenkommission. Sie wünschen sich, dass Familien im normalen Gemeindeleben einen Raum finden, über ihr Erlebtes zu reden. „Für Sternenkinder ist viel Liebe da, aber nur wenig Greifbares. Man hat so wenig an der Hand. Das macht es den Eltern gegebenenfalls so schwer, darüber zu sprechen“, meint Diefenbach. Sie hofft, dass die Menschen im Umfeld der Familien sensibler werden und offener über die Erfahrungen sprechen können.
Mutterschutz und Rückbildungskurse
In der Gesellschaft muss sich insgesamt noch viel bewegen, sagen Selbsthilfegruppen wie „Unsere Sternenkinder Rhein Main“ aus Offenbach. Einiges hat sich schon zum Positiven verändert. Seit 2013 dürfen Sternenkinder etwa nach einer Gesetzesänderung unabhängig von ihrem Gewicht beim Standesamt erfasst werden und offiziell einen Vornamen tragen. Eltern können sich eine Geburtsurkunde ausstellen lassen. Dennoch gibt es viele Herausforderungen. „Sternenkinder Rhein-Main“ berichtet etwa, dass Menschen einen Bogen um ihren Stand machen, wenn sie Informationen verteilen möchten. Die Berührungsängste seien zu groß. Selbsthilfegruppen setzen sich auch dafür ein, dass der Mutterschutz ausgeweitet wird. Er besteht erst, wenn das Kind 500 Gramm wog. Eine Krankschreibung der Frauen nach einer Fehlgeburt liegt daher alleine im Ermessen des Arztes. Ein weiterer Punkt: Eigene Rückbildungskurse für Sternenmamas sind selten. Da die Kurse recht klein sind, rechnen sie sich für Hebammen-Praxen nicht. Selbsthilfegruppen beschäftigen sich auch mit Friedhofsordnungen, denn nicht alle berücksichtigen Sternenkinder. Auf dem Sternenkinderfeld in der Stadt Limburg sind etwa keine Einzelbestattungen möglich.
Die Klinikseelsorger und Klinikseelsorgerinnen beider Konfessionen in Hanau gehören zu den Ersten, die sich der Bestattung von Sternenkindern angenommen haben. Seit 1999 werden alle früh in der Schwangerschaft verstorbenen Kinder aus dem Klinikum und dem St. Vinzenz-Krankenhaus auf dem Hauptfriedhof zusammengeführt in zwei Särgen beigesetzt – die Kinder, die leichter als 500 Gramm und daher nicht bestattungspflichtig sind. Die Eltern könnten ihr Kind auf Wunsch auch individuell beerdigen. Bei jeder Trauerfeier wird ein Stern aus Stein mit dem Datum verlegt. „Es ist so wichtig, dass die Eltern einen Ort zum Trauern haben. Vielleicht wollen sie sich erst einmal nicht mit dem Thema befassen. Wenn der Schmerz später doch kommt, können sie ihr Kind hier finden. Das ist für sie eine große Erleichterung. Es zeigt: Mein Kind ist wirklich da gewesen“, erzählen die beiden Seelsorgerinnen Anna Hartmann und Pfarrerin Simone Heider-Geiß.
Bei den Andachten, die vierteljährlich stattfinden, verwenden sie Symbole, die von Christen wie nichtreligiösen Menschen verstanden werden: ein Windrad oder ein Schmetterling. Wenn die Eltern es wünschen, können sie den Namen ihres Kindes sagen. Den beiden Seelsorgerinnen ist wichtig zu verdeutlichen: Bei Gott geht keiner verloren, nicht die kleinsten Kinder und nicht die Familien, die Eltern und Geschwister, die in ihrem Schmerz unterzugehen drohen.
Mehr als ein „Zellklumpen“
2003 wurde auch in Limburg ein Sternenkindergräberfeld eingerichtet. Heike Margraf, Leiterin der katholischen Familienbildungsstätte in Hadamar, war maßgeblich daran beteiligt. Hier finden ebenfalls vierteljährlich gemeinschaftliche Beisetzungen statt. Das Team der Familienbildungsstätte berät auch zu individuellen Beisetzungsmöglichkeiten, etwa in Gräbern von Angehörigen oder in Friedwäldern. Margraf betont, wie wichtig das Kennenlernen des Kindes im Krankenhaus ist, um dann Abschied nehmen zu können. „Viele Eltern und auch manchmal das Krankenhauspersonal wollen möglichst schnell raus aus der Situation und das Geschehen vergessen. Dabei ist es für den Trauerprozess sehr wichtig, dass Vater und Mutter wahrnehmen, dass sie Eltern geworden sind, dass sie gute Erinnerungen sammeln, die grauenhafte Situation in gute Bilder bringen, auch wenn der Moment nur kurz ist. Die Klinikseelsorger und Klinikseelsorgerinnen möchten die Eltern zu dem toten Kind heranführen. Dieser Moment ist sehr sensibel, elementar und unwiderbringlich“, sagt sie.
Umso mehr schmerzt es sie, dass es immer wieder Situationen gibt, in denen würdige Bestattungen schwierig sind. „Wenn etwa die kleine Geburt vor der zwölften Woche zu Hause stattfindet, da habe ich zu kämpfen, dass die Kinder überführt und später auch beerdigt werden können. Da höre ich manchmal noch von Bestattern oder Pathologen solche Sätze wie ‚Ich kann mich doch nicht um jeden Zellklumpen kümmern und aufbewahren‘“, erzählt die Sozialpädagogin und Trauerbegleiterin. Margraf betont, wie wichtig ein fächerübergreifendes Zusammenwirken von Klinikpersonal, Pathologie, Fachkräften im Gesundheitswesen und auch kirchlichen Mitarbeitenden im Sinne der betroffenen Eltern und ihren Sternenkindern wäre. Nicht selten blieben Traumata zurück, die bis ins hohe Alter hinein wirken. „Nicht nur aus christlichem Verständnis heraus ist es wichtig, dass diese Kinder den Status einer Person bekommen. Wir müssen zeigen: Auch wenn sie noch so klein sind, sind es von Gott gewollte Kinder.“
Theresa Breinlich
Katholische Kirchenmagazine „Glaube und Leben“, „Der Sonntag“, „Bonifatiusbote“
Oktober 2024
Foto: Margraf/Familienbildungsstätte Limburg